Was ist der Mensch? Chemisch ist es einfach: Wir sind ein Mix aus Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor und Schwefel. Doch bis heute kennen wir die Kraft nicht, die aus unbelebter Materie lebende Zellen macht. Das ist ernüchternd. Mich macht es demütig.
Diese Demut fehlt in den Fragen um den Anfang und das Ende des Lebens. An ihre Stelle tritt die Selbstbestimmung. Geschürt von Menschen wie Descartes („Ich denke, also bin ich“) oder Kant („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“), ist sie zum zentralen Wert unserer Gesellschaft geworden.
Die Betonung des Einzelnen führt zur Auflösung von politischen und geistigen Bezugspunkten. Das Denken von Gott als dem Schöpfer des Lebens fällt unter den Tisch; Selbstbestimmung und Selbstentfaltung schwingen sich auf zum höchsten Ziel im Leben. Losgelöst vom Ursprung tritt das Selbst aber auf unsichere Wege, inklusive dem Risiko, sich zu täuschen.
Wörtlich heisst „Individuum“ unteilbar; einzigartig. Zur Individualität hat Gott ein ganzes Ja. Wir sind als Unikate geschaffen, um als solche in Beziehung zu anderen zu treten. Wir leben nicht nur aus uns und für uns selbst. Wir sind „Individuen in Beziehung“, schreibt Paul Kleiner im Aufsatz „Bedeutung von Selbstbestimmung aus christlicher Sicht – im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft“.
Damit unser Leben gelingt, brauchen wir Liebe, Umsorgung, Anerkennung – von anderen. Die pure Selbstbestimmung kann nur dort das höchste Ziel werden, wo so getan wird, als hätte die Medaille namens Mensch keine Rückseite.